In der Ukraine könnte das Fundament für einen europäischen Frieden gelegt werden

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Die Ankündigung der Nato, die Ukraine als Vollmitglied aufnehmen zu wollen, und die russische Reaktion darauf, in einer Drohgebärde 100.000 Soldaten an die Grenze zur Ukraine zu verlegen, hat zu der schwersten und gefährlichsten Krise auf dem europäischen Kontinent nach dem Ende des Kalten Krieges geführt. Dieser Konflikt ist nun zu einem direkten Konflikt zwischen den beiden stärksten Atommächten der Welt, den USA und Russland, auf europäischem Boden geworden. Seit der Kubakrise im Oktober 1962, bei der es um einen ähnlich gelagerten Konflikt zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion ging, ist die Menschheit nicht mehr in eine derart gefährliche Situation gekommen.

Und doch: Der jetzige Ukraine-Konflikt trägt auch die Möglichkeit in sich, politische Fehlentwicklungen nach dem Ende das Kalten Krieges zu bereinigen und zu einer dauerhaften gesamteuropäischen Friedensregelung zu gelangen. Nur müssten sich vor allem die Staaten Europas daran erinnern, dass der Ukraine-Konflikt primär ein innereuropäischer Konflikt ist und sich eine Lösung nur finden lässt, wenn Europas eigene Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen – und nicht globale Machtansprüche – in den Vordergrund gestellt werden.

Die größte Gefahr liegt in der Schwäche aller Kontrahenten

Auch wenn es vordergründig so scheint, dass es sich hier um Demonstrationen der Stärke, vor allem militärischer Stärke, handelt, so muss man bei näherer Betrachtung doch feststellen, dass es vielmehr die jeweiligen Schwächen der Kontrahenten sind, die die Entscheidungen in diesem Konflikt beeinflussen. Die Angst, Schwäche zu zeigen, lässt Menschen oft schreckliche Entscheidungen treffen, das gilt vor allem für Politiker. Das ist es, was diesen Konflikt so gefährlich macht.

Sollte Russland in die Ukraine einmarschieren, so würde das aus Schwäche, nicht aus Stärke geschehen. Es wäre ein Verzweiflungsakt, weil Russland zu dem Schluss gekommen ist, dass ein Nato-Land Ukraine eine existenzielle Bedrohung darstellt und der Westen nicht bereit ist, Russlands Sicherheitsinteressen zu respektieren. Die wohl berechtigte Furcht ist, dass dann bald amerikanische Truppen direkt an der russischen Grenze stationiert werden, ausgerüstet mit modernsten Raketen, die auch nukleare Sprengköpfe tragen und in weniger als fünf Minuten Moskau erreichen könnten. Russland würde erpressbar werden. Auch muss Russland befürchten, dass die USA noch weiter gehen. Nach westlicher Auffassung wäre bei einer Mitgliedschaft der Ukraine die Krim ein Gebiet, das unter den Schutz der Nato fiele. Amerika könnte nun versuchen, Russland auch von der Krim zu verdrängen. In jeden Fall würde dadurch Russlands Zugang zum Schwarzen Meer erschwert, wenn nicht gar komplett blockiert. Mit einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine wäre so bereits der nächste Konflikt programmiert.

Kurzfristig wäre eine militärische Intervention für Russland sicherlich machbar. Dabei könnte Moskau mit einer großen Zustimmung nicht nur innerhalb Russlands, sondern auch in einem Großteil der Bevölkerung der Ostukraine, insbesondere bei der russisch sprechenden Bevölkerung rechnen. Aber Russland weiß auch aus seiner Afghanistanerfahrung, dass solche Interventionen einen enormen Preis haben und anfängliche Sympathien schnell in das Gegenteil umschlagen können. Die pro-westlichen ukrainischen Militia-Verbände, die gerade mit viel Geld und Waffen für einen Kampf gegen Russland ausgerüstet werden, haben Zulauf von rechtsextremen russischen Gruppen, die den Konflikt nach Russland hineintragen könnten. Westliche Sanktionen würde Russland hingegen weniger fürchten.

Die eigentliche Schwäche Russlands wäre aber, dass es mit einer Invasion der Ukraine, auch wenn sie militärisch erfolgreich sein sollte, dem eigentlichen Ziel, nämlich sich einer zunehmenden militärischen Bedrohung seitens der Nato zu entziehen, nicht näherkommen würde. Im Gegenteil, der Druck würde sicherlich noch größer werden, und Russlands militärische Möglichkeiten sind begrenzt. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass die USA auf einen russischen Einmarsch mit einem militärischen Gegenangriff reagieren würden, so würde es wohl zu einer Stationierung von Nato-Einheiten in der nicht besetzten West- und Südukraine kommen. Auch könnten sich bisher „neutrale“ Staaten wie Finnland und Schweden dazu entschließen, der Nato beizutreten oder zumindest erlauben, Nato-Einheiten in ihren Ländern zu stationieren.

Für die USA stellt sich die Situation anders da. Militärisch sind sie Russland verführerisch überlegen. Die jährlichen Militärbudgets der USA und seiner Nato-Partner übersteigen die Militärausgaben Russlands fast um das Zwanzigfache! Dennoch haben die USA eigentlich keine eigenen sicherheitspolitischen oder wirtschaftlichen Interessen in der Ukraine. Während Russland getrieben ist von dem Gefühl, existenziell bedroht zu sein, ist es die Motivation der USA, sich wieder als globale Ordnungsmacht zu positionieren. „America is back again“! In der Durchsetzung dieses globalen Machtanspruchs verspricht der Ukraine-Konflikt den leichtesten Sieg – nur, und das ist das Problem, haben sich die USA in ihrem Glauben an leichte Siege meistens geirrt.

Die eigentliche Schwäche der USA besteht darin, dass sie den Konflikt mit Russland in einer Zeit angehen, in der sie ihre einstige Stellung als alleinige globale Ordnungsmacht bereits verloren und inzwischen mit riesigen Problemen im eigenen Land zu kämpfen haben. Gleichzeitig bleiben die USA in viele der noch ungelösten Konflikte in der Welt verwickelt, einige mit einem höheren Gefahrenpotenzial für die USA als dasjenige mit Blick auf Russland. Da ist zuerst der Konflikt mit China, einem ernstzunehmenden und viel mächtigeren Gegner, der in der Taiwan-Frage oder im Südchinesischen Meer sicherlich nicht nachgeben wird. Dann ist da der Iran, der die Gelegenheit nutzen könnte, nun selbst zur Atommacht aufzusteigen. Und da ist noch Nordkorea, das nun ungestört sein Arsenal an Atomsprengköpfen und Interkontinentalraketen ausbauen kann und damit die USA direkt bedroht. Weiterhin haben die USA ihren Einfluss in Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen und Jemen verloren, also in Regionen, die für sie strategisch wichtig sind. Trotz all ihrer militärischen Macht wird das die USA überfordern. So könnten die USA vielleicht den Konflikt mit Russland taktisch „gewinnen“, würden aber strategisch geschwächt aus dieser Konfrontation hervorgehen.

Die Nato soll nun die Ordnung in Osteuropa bei gleichzeitiger Ausgrenzung Russlands sicherstellen. Nur wird die Nato dazu kaum in der Lage sein. In ähnlich gelagerten Konflikten war die Nato nie erfolgreich: Trotz einer enormen militärischen Überlegenheit musste sie Afghanistan fast fluchtartig verlassen. In Libyen hat der Nato-Einsatz nur zu Chaos geführt, und der von der Nato diktierte Frieden auf dem Balkan ist gerade dabei, auseinanderzubrechen. Um Serbien aus dem Kosovo zu vertreiben, brauchte die Nato dreieinhalb Monate intensivster Luftangriffe, die viele Zivilsten das Leben kosteten. Als es daraufhin zu gewaltsamen Vertreibungen von Serben und Roma aus dem Kosovo kam, sah die Nato fast tatenlos zu.

So kann man auch kaum erwarten, dass die Nato es in einem bewaffneten Konflikt in der Ukraine (einem viel größeren Land als den eben erwähnten) besser machen würde. Sie würde erneut vor dem Problem stehen, ob sie nun primär ein Verteidigungsbündnis, eine Interventionsmacht oder gar eine globale Polizeitruppe ist. Mitgliedsländer täten sich schwer, dazu eine Lösung zu finden. Ein Scheitern der Nato wäre fast programmiert.

Für die Europäische Union ist der Ukraine-Konflikt schon jetzt zum Symbol ihrer Schwäche geworden. Obwohl es sich hier um ein europäisches Problem handelt, dessen Auswirkungen primär Europa treffen werden, überlässt man das Feld lieber den USA. Selber hat die EU nichts beizutragen als Allgemeinfloskeln von einer werteorientierten Politik – gemischt mit Drohungen an Russland. Überlegungen, was die eigenen Interessen Europas in diesem Konflikt seien, gibt es nicht. So gibt es auch keine nennenswerten Ansätze, diesen Konflikt friedlich zu lösen. Zwar gibt es Gespräche mit Russland in Brüssel, aber der EU fehlt es an der nötigen Glaubwürdigkeit und Flexibilität für derartige Verhandlungen.

Der größte Schwachpunkt im Ukraine-Konflikt ist die Ukraine selbst

Die Ukraine war, ist und bleibt primär ein „Grenzland“, das zwischen einem pro-russischen und einem pro-westlichen Bevölkerungsteil zerrissen ist. Das war so im Ersten und Zweiten Weltkrieg und wurde auch zum bestimmenden Faktor beim Regierungssturz von 2014. Was der Westen gerne als eine demokratische Revolution bezeichnet, war wohl eher der Austausch einer korrupten pro-russischen Elite gegen eine ebenso korrupte pro-westliche Elite. Der an die Macht gebrachte Präsident Poroschenko und dessen Ministerpräsident Jazenjuk waren sicherlich keine Symbole einer demokratischen Erneuerung. Der heutige Präsident Selenskyj gehört keinem der traditionellen Machtblöcke in der Ukraine an, aber es ist gerade dieser Umstand, der ihn nun viel zu schwach macht, um den Minsker Prozess durchzusetzen oder etwas anderes Grundsätzliches in der Ukraine zu verändern. Auch er ist bereits der Steuerhinterziehung verdächtigt und soll illegale Konten im Westen haben. In Zeiten großer Unsicherheit muss auch er sich um die Zukunft seiner Familie sorgen.

In einer militärischen Auseinandersetzung wäre nicht klar, wo die Loyalitäten der einzelnen ukrainischen Bevölkerungsgruppen lägen. Wie unberechenbar diese sind, hat sich gezeigt, als in den ersten Wahlen nach der pro-westlichen Orangenen Revolution der pro-russische Kandidat Victor Janukowytsch gewann. Eine Warnung sollte auch sein, dass viele jungen Männer vor allem aus pro-westlichen Teilen der Ukraine nach Polen fliehen, um einem Kriegsdienst zu entgehen. Es sind gespaltene Loyalitäten, die die ukrainische Armee zu einem Unsicherheitsfaktor machen. Da werden auch alle Versuche der USA und Großbritanniens, sie für einen Kampf gegen Russland auszurüsten, nichts ändern. Das würde erklären, warum die ukrainische Regierung den höchst zweifelhaften Entschluss gefasst hat, per Gesetz Militia-Verbänden das Recht einzuräumen, Mitglieder zu rekrutieren, auszubilden und zu bewaffnen, um gegebenenfalls gegen Russland zu kämpfen.

Was im Westen gerne als Volkswiderstand gesehen wird, könnte die Gräben in der ukrainischen Gesellschaft weiter vertiefen. Denn es handelt sich bei diesen Milizen meistens um rechtsextreme Gruppen. Darunter ist z.B. die Ukrainische Legion, die, wie schon der Name zeigt, sich auf die unter der deutschen Nazi-Herrschaft aufgestellten ukrainischen Verbände beruft, die im Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurden, um gegen die Sowjetunion zu kämpfen. Nun war aber der größte Teil der ukrainischen Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg gegen die deutsche Besetzung und hat deshalb schrecklich gelitten – auch durch ukrainische Kollaborateure. Das ist sicherlich nicht vergessen.

Ebenso vertritt das Regiment Asow mit seinen der SS nachempfundenen Emblemen ein erschreckendes nationalsozialistisches Gedankengut. Das Regiment wurde, wie auch die politisch ähnlich ausgerichtete Aidar Brigade, bereits 2014 gegen pro-russische Rebellen eingesetzt. Dabei machte es sich einen Namen durch ein besonders brutales Vorgehen in der Ost-Ukraine. In einem Interview mit The Guardian vom 10. September 2014 erklärte ein Anführer des Asow-Regiments, er wolle gegen Russland kämpfen, da Putin ein Jude sei. Solch antisemitische Auffassungen unter den nun legalisierten pro-westlichen Milizen könnten letztlich sogar Präsident Wolodymyr Selenskyj, der jüdische Wurzeln hat, gefährlich werden.

Auch auf der pro-russischen Seite diktieren Militia-Verbände, die nicht weniger zimperlich vorgehen, das Geschehen. Ein militärischer Konflikt könnte sich daher schnell in einen bewaffneten Konflikt zwischen diesen pro-westlichen und pro-russischen Milizen entwickeln und die Ukraine in ein Inferno senden, das wegen der modernen Bewaffnung noch um einiges schlimmer sein könnte als der Bürgerkrieg in Syrien. Die Nato könnte sich in einem derartigen Konflikt auf der Seite recht unappetitlicher rechtsextremer Milizen wiederfinden.

Der Westen sollte sich nicht dem gleichen Selbstbetrug hingeben, dem er schon in Afghanistan zum Opfer gefallen war. Auch dort glaubte man, mit Hilfe einer militärischen und finanziellen Übermacht das Land nach westlichem Vorbild umbauen zu können. Auch dort wurde immer wieder davon berichtet, wie sehr die Afghanen westliche Freiheiten umarmten und wie geeint sie nun seien, einer Machtübernahme durch die Taliban entgegenzuwirken. Auch in Afghanistan ist versucht worden, mit viel Geld politische Loyalitäten zu erkaufen. Dadurch hat man jedoch nur die Korruption angefacht. Auch in Afghanistan wurde die Armee neu aufgestellt, ausgerüstet und nach westlichem Muster trainiert, auch in Afghanistan sind westliche Geheimdienste dazu übergegangen, Milizen zu finanzieren und auszurüsten. Und auch in Afghanistan gab es eine Regierung, die meinte, die Situation im Griff zu haben. Nur: Die Leichtigkeit, mit der die Taliban das gesamte Land überrannten, und die überstürzte Flucht seiner pro-westlichen Regierung erzählen eine ganz andere Geschichte.

Der Ukraine-Konflikt braucht eine europäische Lösung

Ein Krieg in und um die Ukraine ist mit einem großen Risiko behaftet, für den Westen ebenso wie für Russland. Es muss deshalb jetzt kein Taktieren, sondern eine substanzielle Lösung geben, und dies kann nur eine innereuropäische Lösung sein.

Es ist unwahrscheinlich, dass Präsident Biden in der Lage ist, eine auch für Europa befriedigende Lösung zu verhandeln. Schon die schriftliche Antwort der USA an Russland verspricht nichts Gutes. Biden ist ein schwer angeschlagener Präsident mit schlechten Umfragewerten, der bald durch einen feindlichen Kongress gelähmt sein könnte. Ihm lastet man den chaotischen Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan an. Um den Führungsanspruch der USA zu sichern, eine Auffassung, der auch die meisten Republikaner anhängen, wird er nicht bereit sein, auf Kompromisse mit Russland einzugehen oder russische Sicherheitsinteressen anzuerkennen. Er wird die Aufnahmen der Ukraine und Georgiens in die Nato ohne jede Einschränkung vorantreiben. Ansonsten könnte er sich in den USA der Kritik aussetzen, einen leichten Sieg vergeben zu haben.

Für Europa wäre das eine gefährliche Strategie, denn sie würde das Problem nicht lösen, sondern nur verschieben. Hatte das 20. Jahrhundert, das blutigste der europäischen Geschichte, noch mit dem großen Versprechen eines gesamteuropäischen Friedens geendet, so würde ein bewaffneter Konflikt in der Ukraine, dem zweitgrößten Land Europas, den europäischen Kontinent in einen noch viel gefährlicheren Kalten Krieg zurückversetzen. Das kann nicht im Interesse Europas sein.

Letztendlich sollten die Interessen der EU gar nicht so weit von denen Russlands entfernt sein. Wenn man einmal von den vielen Hassreden über Expansionsgelüste Russlands (Heusgen) oder einem irrationalen Verhalten Putins absieht, sollte doch Russland genauso wenig wie der Rest von Europa ein Interesse daran haben, sich gegenseitig mit immer neuen Atomwaffen und immer schnelleren hypersonischen Raketensystemen zu bedrohen. Auch sollten beide Seiten kein Interesse daran haben, einen Krieg innerhalb eines europäischen Landes loszutreten oder daran, die Ukraine mit immer mehr Waffen zu „versorgen“. Wäre hier nicht ein Ansatz zu finden, um die sicherlich berechtigten Ängste der Osteuropäer vor einem erstarkten Russland und Russlands genauso berechtigte Angst vor einer militärischen Bedrohung seitens der Nato zu entschärfen? Nur braucht das eine Lösung, die frei von geopolitischen Überlegungen einer Weltherrschaft ist. Weder die EU noch Russland werden je eine globale Großmacht auf Augenhöhe mit den USA oder China sein. Vielleicht liegt gerade darin die Chance für einen innereuropäischen Frieden.

Die Europäische Union wird nicht in der Lage sein – zumindest nicht jetzt –, eine Friedenslösung mit Russland zu verhandeln. Aber die Europäische Union ist kein monolithischer Block und, anders als in den USA, ist die Außen- und Sicherheitspolitik nicht das alleinige Privileg der EU. Was oft als Nachteil der europäischen Einigung angesehen wird, könnte hier die nötige Flexibilität schaffen, um auf Russland zuzugehen.

Deshalb ist die Initiative des französischen Präsidenten Macron, zusammen mit dem deutschen Bundeskanzler Scholz auf innereuropäische Friedensgespräche mit Russland und der Ukraine zu setzen, der einzige erfolgversprechende Weg, eine dauerhaft friedliche Lösung zu finden. Hier werden bereits bestehende französisch-deutsche Foren mit Russland und der Ukraine wie das Normandie-Format oder der Minsker Friedensplan den Boden bereitet haben, auf dem nun aufgebaut werden kann. Man kann den Mut von Macron und Scholz nur bewundern, da beide mit einer weitverbreiteten russlandfeindlichen Hysterie konfrontiert sind und bisher noch wenig Unterstützung bei ihren europäischen Kollegen erfahren haben.

Eine französisch-deutsche Friedensinitiative, die auf Diplomatie und nicht auf militärische Bedrohung, auf Zusammenführen und nicht auf Ausschließen und auf Anerkennung gegenseitiger Sicherheitsinteressen aufbaut, könnte den Grundstein für eine gesamteuropäische Friedensordnung legen. Nachdem 1963 Frankreich und Deutschland ihre Erbfeindschaft in eine Freundschaft verwandelten, könnte man nun damit beginnen, auch die heute noch bestehende Feindschaft mit Russland, dem dritten großen Kontrahenten nach zwei Weltkriegen, abzubauen. So könnte eine neue Chance für einen Frieden entstehen, die nach dem Ende des Kalten Krieges sträflich vertan wurde.

Ein solches Vorgehen würde in Russland gewiss willkommen sein und es ist zu erwarten, dass es mit einem Entgegenkommen in Fragen osteuropäischer Sicherheitsinteressen antworten würde. Für alle Seiten wäre bei einer Verständigung innerhalb Europas sehr viel zu gewinnen. Das gälte insbesondere für die Ukraine, die so die Möglichkeit bekäme, ihren inneren Frieden zu finden, ohne von geopolitischen Interessen anderer Länder zerrissen zu werden. Die Ukraine könnte zum ost-westlichen Bindeglied in Europa werden – eine Rolle, die ihr sicherlich viel besser stehen würde.

Es wäre auch ein wichtiger Schritt, die französisch-deutsche Freundschaft, ein Grundpfeiler europäischen Friedens, neu zu beleben. Nachdem viele Positionen zwischen Frankreich und Deutschland – etwa über Staatsschulden, Atomkraft oder eine europäische Armee – auseinandergefallen sind, könnte nun in der nobelsten aller politischen Aufgaben, den Frieden zu erhalten, ein gemeinsames Vorgehen die Freundschaft wieder enger zusammenführen.

Ein solcher Schritt wäre von einem enormen Wert für die europäische Integration. Zum ersten Mal seit dem Wiener Kongress wäre es möglich, einen dauerhaften Frieden aus eigener europäischer Verantwortung heraus zu entwickeln. Es würde sicherlich Widerstand geben – in den USA wie auch innerhalb Europas. Aber einen Versuch sollte es wert sein. Die Alternative, auf militärische Mittel zurückzugreifen, könnte schrecklich enden.