Als sich US-Präsident Obama im September an die UN-Generalversammlung wandte, klang ein Großteil seiner Rede wie eine Kriegserklärung an den so genannten „Islamischen Staat“ (IS) im Irak und in Syrien. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Luftkrieg bereits begonnen. Anders als sonst, wirkte der Präsident erschöpft und traurig – und seine Argumente dürften die Mehrheit der Delegierten kaum überzeugt haben. Ausgerechnet der Präsident, der US Militärabenteuer in Übersee beenden wollte, musste nun einen Krieg rechtfertigen, der in vielerlei Hinsicht eine Fortsetzung der von ihm immer abgelehnten Militärinterventionen seines Vorgängers ist. Und nicht nur das: Obama mag mit seinem Luftkrieg auch die eigentliche Chance vertan haben, die tieferen inneren Widersprüche des Islamischen Staates auszunutzen, um ihn ohne Bomben zu besiegen.
Interessen und Moral
Für uns im Westen besteht die Gefahr, dass wir zwar mit der Überzeugung der moralischen Überlegenheit in diesen Krieg hineinziehen, aber ihn moralisch kaum unversehrt werden beenden können. Kriege haben ihre eigene Logik. Es wird zu Menschenrechtsverletzungen und zu Kriegsverbrechen kommen – und zwar auch von uns und unseren Verbündeten. Wenn wir nun erneut unsere Pferde satteln, um die Völker des Nahen Ostens angeblich vor sich selbst zu retten, dann sollte uns dabei klar sein, dass wir zu den Ursachen dieser Konflikte tüchtig beigetragen haben.
Wir haben künstliche Staatsgebilde kreiert, willkürliche Grenzen gezogen und uns gegenüber loyale Herrscher inthronisiert. Dabei haben wir so ziemlich jede existierende regionale Gruppe für unsere Zwecke instrumentalisiert – und eben auch verraten. Unsere scharfen Sanktionen und die US-geführte Invasion, die so viele Menschen das Leben gekostet und zu dem jetzigen Auseinanderbrechen Iraks beigetragen haben, liegen erst wenige Jahre zurück. Wir haben das vielleicht vergessen, doch die Menschen in der Region haben das bestimmt nicht. Wir werden deshalb kaum als Retter begrüßt werden.
“Wenn wir nun erneut unsere Pferde satteln, um die Völker des Nahen Ostens angeblich vor sich selbst zu retten, dann sollte uns dabei klar sein, dass wir zu den Ursachen dieser Konflikte tüchtig beigetragen haben.“
Während der Westen nun gegen den Islamischen Staat kämpft und die nationale Einheit des Iraks verteidigt, werden unsere irakischen Alliierten ihre eigenen Ziele verfolgen. Die irakischen Kurden dürften versuchen, einen lebensfähigen kurdischen Staat durch Expansion in sunnitische Gebiete zu erlangen. Die irakischen Schiiten dürften sich auf die Verteidigung Bagdads konzentrieren und ihren Einfluss durch Vertreibung der sunnitischen Bewohner südlich Bagdads absichern. Und ob wir überhaupt lokale Alliierte in Syrien haben und welche Ziele diese verfolgen, bleibt völlig unklar.
Doch damit nicht genug, auch unsere angeblichen Alliierten in der Region werden ihre eigenen Interessen verfolgen. Der Türkei dürfte es primär um die eigene unmittelbare Bedrohung durch einen nun möglich gewordenen kurdischen Superstaat gehen, der sich weit auf türkisches Territorium erstrecken könnte. Doch auch die arabischen Königreiche und Emirate dürften sich als unzuverlässige Partner erweisen. Es liegt nicht in ihrem Interesse, eine de facto schiitische Regierung in Bagdad vor ihren sunnitisch-arabischen Brüdern zu schützen. Und natürlich hat auch der Iran seine eigenen Interessen. Anstatt den Kampf gegen den IS zu gewinnen, könnten wir also eines Tages feststellen, dass wir isoliert für Länder kämpfen, die so nicht mehr existieren.
Es gibt keine Garantie, dass der Westen diesen Konflikt mit Bombenangriffen gewinnen kann (denken wir nur an die Taliban) oder dass wir den Resonanzboden, der den IS möglich gemacht hat, durchbrechen können. Wir müssen uns deshalb fragen, ob die aktuelle Bombenkampagne tatsächlich die beste Vorgehensweise gegen ein Gebilde wie den IS darstellt. Eine andere Möglichkeit wäre es gewesen, zwei entscheidende Schwächen des Islamischen Staates auszunutzen. Denn solche bestehen durchaus: Erstens befindet sich der IS in offener Feindschaft zu fast allen arabisch-sunnitischen Gruppen, Regierungen und religiösen Tendenzen. Und zweitens steht der IS vor der schwer zu bewältigenden Aufgabe, nicht nur ein riesiges Territorium kontrollieren zu müssen, sondern auch einen lebensfähigen – und gerechteren – „islamischen Staat“ zu errichten.
Leider wird die westliche Militärintervention arabische Sunniten nun davon abhalten, sich dem IS entgegenzustellen. Der aktuelle Versuch, einige arabische Königshäuser als Bundesgenossen vorzuführen, dürfte kaum ausreichen. Die Opposition gegen den IS, sollte sie Erfolg haben, muss aus dem Inneren der sunnitisch-arabischen Bevölkerung kommen. Solche inner-sunnitischen Auseinandersetzungen wären hilfreich. Sie würde arabische Sunniten zwingen, selbst darüber zu entscheiden, welche Zukunft sie für sich wollen, und nicht nur auf westliche Einmischungen zu reagieren. Aktuell aber lassen wir den arabischen Sunniten herzlich wenig Raum, um selbst Verantwortung zu übernehmen. Damit verstärken wir nur alte Muster arabischer Solidarität gegen arrogante ausländische Mächte. Denn die USA, Großbritannien, Frankreich und der Westen im Allgemeinen können ohnehin nur auf wenig Sympathie in dieser Region hoffen.
Staat in der Pflicht
Unsere Luftangriffe werden auch ein Ausnutzen der zweiten Schwäche des Islamischen Staates verhindern. Die Führung des IS ist mit dem Anspruch aufgetreten, auf den Prinzipien des Islam einen neuen und gerechteren Staat zu errichten. Damit hat der IS unter seinen Anhängern und Sympathisanten hohe Erwartungen hervorgerufen. Es wird aber schwer, wenn nicht gar unmöglich sein, diese Erwartungen zu erfüllen. Die Realität wird den IS bald einholen.
Der Islamische Staat wird für die Versorgung seiner Bevölkerung zuständig sein, die auf Arbeit, Nahrung, Wasser und andere Dienstsleistungen angewiesen ist. Die Menschen werden Straßen, Transportmittel, medizinische Versorgung und ein Bildungssystem benötigen. Angesichts der Feindschaft zu den Nachbarländern und der Tatsache, dass die vom IS kontrollierte Region isoliert und ressourcenarm ist, dürften diese Bedürfnisse nur schwer zu erfüllen sein. Doch wie lang kann die Hoffnung auf ein idealisiertes Kalifat aufrechterhalten werden, wenn das Herrschaftsgebiet von ökonomischer Depression geprägt ist und Chaos nur durch Angst unterdrückt werden kann? Auf Schwierigkeiten könnte die IS-Führung vermehrt mit Gewalt gegen die „eigene“ Bevölkerung reagieren.
“Auch der motivierteste Dschihadist muss essen, trinken, benötigt Munition, muss bei Gesundheit bleiben und braucht Geld.“
sere Bombenangriffe der IS-Führung die perfekte Ausrede, weshalb die Versprechen nicht erfüllt werden können. Die Bomben werden der Führung helfen, Unzufriedenheit und Dissens zu unterdrücken und die Moral aufrechtzuerhalten. Aber gerade das können wir doch nicht wollen.
Um von der Schwäche des IS zu profitieren, bräuchten wir keine Drohnen, keine Cruise Missiles und keine Smart Bombs, sondern ein geschickteres Vorgehen und mehr Fingerspitzengefühl. Dabei kann eine Militärintervention immer noch eine letzte Option bleiben. Warum weigern wir uns, aus den fehlgeschlagenen Interventionen im Libanon, in Somalia, in Afghanistan, im Irak und in Libyen Schlüsse zu ziehen? Jetzt, da die Bombardierungen begonnen haben, gibt es kein Zurück mehr. Wir können nur hoffen, dass der Islamische Staat sich als weniger starker Gegner erweist, als es seine aktuellen Erfolge nahe legen. In diesem Falle würden wir aber mehr durch Glück siegen als durch eine durchdachte Strategie.
Sollten wir nicht in der Lage sein, den IS rasch auszuschalten und uns stattdessen in einen langen nicht gewinnbaren Konflikt verstrickt werden, könnten die Konsequenzen für die Region und den Westen katastrophal sein. Staaten wie Syrien, Irak, Libanon und Jordanien könnten daran zerbrechen und es könnte zu einer brutalen Neuordnung dieser für unsere Sicherheit so wichtigen Region kommen. Große Teile der Region würden dann der Anarchie verfallen oder, noch schlimmer, unter konkurrierenden radikal-islamischen Gruppen aufgeteilt werden. Bei aller Entrüstung über Gräueltaten des IS sollten wir die Konsequenzen unseres militärischen Vorgehens gegen den IS besser durchdenken und mögliche Optionen abwägen.
Das wäre auch wichtig für Afghanistan und Pakistan, denn dort könnte bald etwas ganz Ähnliches geschehen. Zum Jahresende werden die NATO-Truppen aus Afghanistan abgezogen sein. Eine nach den letzten Präsidentschaftswahlen weiter geschwächte Zentralregierung in Kabul, die selbstbewusster agierenden Taliban sowie die Aussicht auf erneute Kämpfe zwischen verschiedenen Volksgruppen könnten die afghanische Armee genauso schnell zur Auflösung bringen wie die irakische Armee angesichts des vorrückenden Islamischen Staates. Niemand will für einen Staat kämpfen, den es eigentlich nicht mehr gibt. Die Zukunft Afghanistans und der angrenzenden Nuklearmacht Pakistan wäre damit in Gefahr. Die verbleibenden 12 000 NATO-Soldaten in Afghanistan dürften dem daraus resultierenden Chaos dann kaum gewachsen sein.
Hoffentlich wird das alles nie passieren. Falls doch, hätten wir, verführt durch unsere militärisch überlegene Technologie, dazu beigetragen, die Gesamtregion vom Hindukusch bis in die Wüste Arabiens in Brand zu setzen. Diesen Brand könnten wir nicht mehr kontrollieren.