Warum der Westen die UNO braucht

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Westliche Politiker und politische Experten sehen in der UN kaum noch ein geeignetes Instrument, um politische Problem zu lösen. Diese Einstellung geht auf die Zeit nach Ende das Kalten Krieges zurück, als man annahm, dass mit dem Sieg liberaler Demokratien eine Organisation, in der nicht-westliche und illiberale Staaten das Sagen haben, so nicht braucht.

Die Zeiten haben sich aber geändert. Eine liberale Weltordnung, wenn es sie überhaupt jemals gegeben hat, wird es so nicht mehr geben. Der Westen ist nun Teil einer multipolaren und politisch diversen Welt, in der Frieden nur erhalten werden kann, wenn unser Zusammenleben auf gemeinsamen Normen und Werten beruht, die gleichermaßen von westlichen und nicht-westlichen Ländern geteilt werden. Das kann allein durch eine UN erreicht werden. Die beiden Grundpfeiler der UN, die Charta mit dem Verbot militärischer Gewalt und die Allgemeinen Menschenrechte mit dem Gebot des Respekts für jeden Menschen, sind epochale Errungenschaft der Menschheit, die heute noch genauso gültig sind. Eine zukünftige Weltordnung muss darauf aufbauen.

Als 1989 die Berliner Mauer fiel, war die Hoffnung, dies werde ein Zeitalter weltweiten Friedens einläuten. Als zwei Jahre später die gesamte kommunistische Welt zusammenbrach, schien klar, dieser Frieden könne nur ein liberaler Frieden sein. Unter der Führung der einzigen Supermacht, der Vereinigten Staaten, würden sich nun demokratische and liberale Werte und eine freie Marktwirtschaft durchsetzen und weltweiten Frieden und wirtschaftlichen Aufschwung bringen.

Abschied von der Hoffnung

Das ist nicht geschehen. Im Gegenteil, der Westen hat sich wiederholt in kostspielige militärische Interventionen verstrickt, die nicht nur nicht gewonnen werden konnten, sondern ganze Regionen ins Chaos gestürzt haben. Die meisten dieser Interventionen waren nach internationalen Recht illegal und beruhten auf fragwürdigen Rechtfertigungen. Die UN Charta war damit ausgehebelt. Und nicht nur das, im Zuge der militärischen Operationen gab es massive Menschrechtsverletzungen. Wir haben damit unsere eigenen Werte verraten.

In der Zwischenzeit hat der Westen viel seiner wirtschaftlichen Überlegenheit eingebüßt. In nur zehn Jahren, so ein Bericht der Standard Chartered Bank, wird nicht nur China, sondern auch Indien, gemessenen in Kaufkraft, die USA wirtschaftlich überholt haben. Unter den zehn stärksten Wirtschaften werden dann sieben nicht-westliche Länder sein. Der technologische Vorsprung, der die westliche Vormachtstellung für 400 Jahren garantierte, geht verloren. Chinas Erfolg in der Entwicklung künstlicher Intelligenz, G5 Technologien und die erste Landung auf der Rückseite des Mondes sind Zeuge dafür. Auch Indien hat mit dem Abschuss eines Satelliten im Weltraum seinen technologischen Fortschritt – sowie seinen Machtanspruch demonstriert.

Demographische Entwicklungen schwächen den Westen. NATOs Anteil an der Weltbevölkerung wird von 12 Prozent auf 10 Prozent in 2030 und auf 8 Prozent in 2100 fallen. Dagegen vereinigt die Shanghai Cooperation Organization bereits heute 40 Prozent der Weltbevölkerung. Europa ist besonders betroffen. War der Anteil Europas z.Zt. seiner größten Machtentfaltung in 1914 noch 27 Prozent, wird er in zehn Jahren auf 5 Prozent fallen. War Afrikas Bevölkerung in 1945 knapp die Hälfte Europas, wird sie voraussichtlich in 2100 das zehnfache betragen.

Kaum 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist es nun der Westen, der Mauern baut. Mit einer Mischung aus Siegerarroganz, militärischer Kurzsichtigkeit und der Obsession, die Entstehung anderer Großmächte mit allen Mitteln zu verhindern, hat der Westen die einmalige Chance für einen liberalen Frieden vertan. Eine Ära ist zu Ende gegangen.

Rückkehr der Schlafwandler

Der Sieger des Kalten Krieges fühlt sich nun selbst wieder bedroht. In einer Art Flucht nach hinten, haben erneut die Auguren eines Kalten Krieges das große Wort. Russland und immer mehr auch China werden beschuldigt, den Westen und die liberale Weltordnung zerstören zu wollen. Begleitet von medialen Vorwürfen, setzen wir wieder auf Aufrüstung, Modernisierung von Atomwaffen, neue Waffensysteme und, als seien wir bereits am Rande eines Krieges, senden wir Militäreinheiten, Panzer und Raketenabwehrbatterien an die russische Grenze und Kriegsschiffe ins Chinesische Meer.

Aber für einen Kalten Krieg stimmen die Parameter nicht. Es gibt keine unvereinbaren Ideologien, keine unversöhnlichen Machtblöcke, die um Weltherrschaft ringen. Weder Russland noch China verfügen über politische Netzwerke, die weltweit Revolutionen und Umstürze planen. NATO ist heute die einzig noch bestehende Militärallianz der Welt. Es gibt keinen Warschauer Pakt mehr und Russlands Militärausgaben betragen gerade 6 Prozent derer der NATO. Chinas Anteil an globalen Militärausgaben hat sich zwar auf 14 Prozent erhöht, ist aber immer noch gering verglichen zu den 68 Prozent westlicher Alliierter. Nicht nur quantitative auch qualitative bleiben westliche Militärtechnologien überlegen.

Es herrscht Marktwirtschaft, von Verstaatlichungen sprechen höchstens Jungsozialisten. Auch Staatskapitalismus und Industriespionage, die wir China vorwerfen, sind dem Westen nicht fremd und hohe Handelsüberschüsse gibt es auch in Deutschland. Die politischen Systeme in Russland und China erfüllen nicht demokratische Kriterien, aber das gilt auch für die meisten anderen Staaten, mit denen wir enge Beziehungen pflegen. Es wird weiterhin Differenzen und unterschiedliche Interessen geben, aber ein Kalten Krieg?

Viel eher könnten die heutigen Spannungen, mit denen vor dem Ersten Weltkrieg verglichen werden. Damals führten gegenseitige Verteufelungen gar nicht so gegensätzlicher europäischer Großmächte in den Krieg. Wie China heute, war es damals das Deutsche Reich, das mit wirtschaftlichen Erfolgen, die Vormachtstellung etablierter Staaten bedrohte. Und heute wie damals bleibt Russland, mit seinen riesigen Gebieten zwischen Asien und Europa, ein missverstandener Außenseiter. Und heute, wie damals, könnte ein lokaler Konflikt zu einer globalen Katastrophe führen.

Wie 1914 scheinen wir nicht zu wissen, was wir eigentlich wollen. Soll Russland, wie Präsident Obama hoffte, zu einer kleinen Regionalmacht reduziert und Chinas wirtschaftlicher Fortschritt gestoppt werden? Und wie sollten wir mit anderen aufkommenden Wirtschaftsmächten umgehen? Träumen wir immer noch von liberaler Weltherrschaft? Sind wir nach einer langen Zeit des Friedens wieder zu Schlafwandler geworden, die sich selbstgerecht in militärischen Drohgebärden verlieren?

Unsere wirklichen Probleme

Dabei übersehen wir, dass nicht konkurrierende Großmächte, sondern schwache Staaten unser größeres Sicherheitsproblem darstellen. Das Zerfallen staatlicher Autoritäten, der Machtzuwachs bewaffneter nicht-staatlicher Akteure (NSA) und das Ausweiten innerstaatlicher Kriege könnte zu einer Spirale der Gewalt führen, die weite Teile der Welt unregierbar machen.

Der Fragile States Index stuft aus 178 untersuchten Staaten 119 als instabil, davon 51 sogar als alarmierend instabil ein. Etwa 80 Prozent der Menschheit lebt in solchen instabilen Staaten. Das könnte noch zunehmen. Bis 2100 soll die Weltbevölkerung um 3,5 Milliarden anwachsen. Das entspricht der heutigen Bevölkerung von China, Indien, der EU und USA zusammengenommen. Dieser Zuwachs wird fast ausschließlich in bereits instabilen Ländern sein. Das könnte verheerende Konsequenzen haben.

Die entstehenden staatlichen Machtvacua werden durch die unterschiedlichsten NSA gefüllt. Dazu gehören nicht nur bekannte Islamische Extremistenorganisationen, sondern auch viele andere ideologisch, religiös oder ethnisch geprägte Gruppen, Unabhängigkeitsbewegungen, Rebellen, Kriegsherren, Milizen, private Armeen, aber auch transnationale kriminelle Organisationen, Drogenbarone, Menschenhändler, Clans and Gangs – und natürlich eine Mischung aller. Es gibt m.E. keine Studie darüber, wie viele Menschen weltweit teilweise oder gänzlich von NSAs kontrolliert werden; die Wirklichkeit könnte aber erschreckend sein – auch für westlichen Länder.

Damit haben auch bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Staaten und NSA dramatisch zugenommen. Seit dem Ende des Kalten Krieges sind fast alle Kriegstote, Vertreibungen, Flüchtlinge und Zerstörungen das Ergebnis solcher innerstaatlichen Kriege. Auch ausländische Interventionen sind heute ausschließlich Einmischungen in solche Konflikte. Das könnte erst die Spitze des Eisberges sein. Wir müssen uns auf eine Zukunft gefasst machen, in der Staat gegen NSA, NSA gegen NSA und soziale Gruppen gegen soziale Gruppen kämpfen.

Eine ähnliche Situation bestand 1917/18, als hunderttausende Verarmte and Entrechtete angeblich gottgegebene staatliche Ordnungen in Europa hinweggefegten. In Zukunft könnten es weltweit hundert Millionen Menschen, die aus einer Hoffnungslosigkeit staatliche Ordnungen und Grenzen überrennen. Der Westen würde dabei nicht verschont bleiben. Militärische Lösungen gibt es nicht; wir brauchen andere, politische Lösungen. Diese können nur innerhalb der UN gefunden werden.

In 2014, bei einem Treffen mit Putin, machte Präsident Obama den westlichen Standpunkt zur Ukrainekrise klar: „Wir haben die Notwendigkeit betont, wichtige internationale Prinzipien einzuhalten und eine solches Prinzip ist, nicht in andere Länder einzufallen oder Proxys zu unterstützen und finanzieren, um ein Land zu destabilisieren, das Mechanismen für demokratische Wahlen hat.“ Wer könnte dem wiedersprechen. Nur, sollte nicht das gleiche Prinzip auch für westliche Interventionen im Kosovo, Irak, Syrien, Libyen, Jemen und eben auch in der Ukraine gelten? Es kann ja kein internationales Recht geben, dass nicht universal angewandt wird.

Obamas Erklärung hat noch einen weiteren Haken: für innerstaatliche Konflikte mit ausländischen Einmischungen, wie in der Ukraine, gibt es das von ihm genannte internationale Prinzip so nicht. Die UN Charta bezieht sich ausschließlich auf zwischenstaatliche Konflikte, jede Anwendung auf innerstaatliche Konflikte ist explizit ausgeschlossen. Auch die Anwendung Humanitären Völkerrechtes (IHL) auf innerstaatliche Kriege ist fraglich. Wollen wir Tragödien wie Syrien in Zukunft verhindern, müssen wir einen neuen Rahmen internationaler Normen und Rechte spezifisch für innerstaatliche Konflikte schaffen. Das müsste u.a. Rechte und Pflichten von Staaten und NSAs definieren, zivile und militärische Interventionen unter kollektiver Sicherheit stellen und die Anwendung allgemeiner Menschrechte und des IHL neu festlegen. Das braucht Zusammenarbeit, auch der Großmächte.

Kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Großmächten sollten der Vergangenheit angehören. Für die schrecklichen Waffensysteme ist unser Planet viel zu klein. Heute sind die meisten Konflikte sowieso interne Konflikte geworden. Um diese zu lösen sind die jährlichen 1,8 Billionen US-Dollar Militärausgaben sinnlos. Keine Atomwaffe, kein Flugzeugträger und kein B-2 Bomber wird uns da retten.

Bald leben 11 Milliarden Menschen auf der Erde. Sie sind nicht unsere Feinde, sie sind unsere Mitverantwortung. Wir brauchen dazu keine Panzer; was zählt, sind funktionierende Staaten und internationale Zusammenarbeit, um Ziele zu erreichen, wie sie u.a. in der Agenda 2030 oder in den Pariser Klimaabkommen vereinbart sind. Dazu brauchen wir eben die Vereinte Nationen.